News RSS-Feed

03.03.2016 Zuwanderung und Immobilienwirtschaft

Rund 1 Mio. Flüchtlinge suchten letztes Jahr Zuflucht in Deutschland. Eine gewaltige Herausforderung für Gesellschaft, Politik, Städte und nicht zuletzt Immobilienwirtschaft. Um die Dimension angemessen einzuordnen: kumuliert über einen Zeitraum von 13 Jahren von 2002 bis 2015 zählten die Statistiker „lediglich“ 700.000 Migranten.

Wie mit dieser Herausforderung in der Immobilienwirtschaft umgehen?

„Die Verantwortlichen in der Immobilienwirtschaft können zu einer Versachlichung der viel dimensionierten Diskussionen beitragen - durch die Hervorhebung der langfristigen Chancen, die in der Zuwanderung auch für die Rekrutierung von Fachpersonal nicht zuletzt im Bau- und Immobiliensektor liegen. Und kurz- und mittelfristig genauso wie langfristig kann die Immobilienwirtschaft ihrem unternehmerischen Zweck genügen und eine menschenwürdige Beherbergung gewährleisten: durch das zur Verfügung-Stellen von Wohnraum oder anderen leerstehenden Immobilien sowie dem Aufzeigen von flexiblen und innovativen Lösungsmöglichkeiten unter Einbezug von Planern, Investoren und Entwicklern“, so Helge Scheunemann, bei JLL Head of Research Germany. Und weiter: „Es geht darum, einen Beitrag zu einem enormen sozialen und demographischen Wandel zu leisten, und es ist gleichsam auch eine Chance, mit Sachlichkeit, Kompetenz und Augenmaß Politik und Behörden sach- und fachlich zu beraten.“

Fakt ist: Deutschland braucht Zuwanderung, um die Lücke zu füllen, die durch das Ausscheiden der in den 50er und 60er Jahren geborenen Babyboomer aus dem Beruf entsteht. Bis 2050 sinkt die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter ohne Zuwanderung von heute rund 45 Mio. auf 29 Mio. ein Rückgang um 36 %. Neue Arbeitswelten und Technisierung werden den Arbeitskräftebedarf zwar zurückschrauben, aber dennoch wird eine erhebliche Lücke bleiben und Deutschland wird auf Einwanderung auch aus Nicht-EU-Ländern angewiesen sein.
Was sind die konkreten Auswirkungen dieser „Völkerwanderung“ auf die Immobilienmärkte?

Zur Unterbringung von Flüchtlingen laufen täglich Anfragen der öffentlichen Hand bei JLL ein. Gesucht werden umnutzbare Büroimmobilien bis hin zu Lagerhallen. In den JLL-Niederlassungen wurden 2015 über 220.000 m² ausschließlich in Büroimmobilien nachgefragt, mit direktem Bezug zur Unterbringung von Flüchtlingen. Und fast das gleiche Volumen wurde bisher bereits von Seiten der öffentlichen Hand angemietet bzw. gekauft. „Wir haben in unseren Big 7 Märkten insgesamt ein Potenzial von weiteren rund 800.000 m² Büroflächen identifiziert, die für die Unterbringung theoretisch in Frage kommen könnten. Das sind aktuell leer stehende Objekte mit jeweils mindestens 5.000m² verfügbarer Fläche. Theoretisch könnte also bei vollständiger Nutzung bzw. Umnutzung dieses Flächenpotenzials die Büro-Leerstandsquote bundesweit auf den Big 7 Märkten um 0,8 %-Punkte sinken“, so Scheunemann. Und weiter: „Das ist aber nur der immobilienwirtschaftliche Nebeneffekt. Entscheidend ist, dass auf dieser Fläche bis zu 150.000 Menschen untergebracht werden könnten. Zunächst ist das Theorie. Es kann aber ein Anschub sein, über Umnutzungen nachzudenken und diese trotz eventuell bestehender vor allem bürokratischer Hindernisse in punkto Sanitäranlagen, Brandschutz oder Fluchtwege anzugehen.“

Neben diesen akuten, ja drängenden Beherbergungsbedürfnissen geht es auch um mittelfristige Konsequenzen in erster Linie für den Wohnimmobilienmarkt.

Bezahlbare Wohnungen sind schon jetzt Mangelware. Die Flüchtlingssituation wird diesen Engpass noch verschärfen. Dazu Scheunemann: „Es wird in diesem Zusammenhang immer wieder angemerkt, dass ein Großteil des Wohnungsbedarfs über den aktuellen Wohnungsleerstand abgedeckt werden kann, bis zu 20% wird geschätzt. Ist das realistisch? Nur dann, wenn es tatsächlich gelingt, die diskutierten Wohnsitzauflagen rechtlich durchzusetzen. Ich habe da meine Zweifel. Die Menschen suchen Arbeit und die ist überwiegend in den größeren Städten zu finden und hier haben wir die größten Engpässe und die Lücke zwischen Fertigstellungen und Bedarf klafft weit auseinander.“

Beispiel Berlin: aus dem Flüchtlingszustrom werden Berechnungen zufolge zusätzliche 60.000 Wohnungen benötigt – in einem eher konservativen Szenario. Lediglich 20.000 Einheiten wurden 2010-2014 fertiggestellt.

Letztendlich gilt das Berliner Beispiel auch für die anderen Großstädte in Deutschland. Der Druck ist evident. Hier muss einfach mehr gebaut werden. Wie kann das gelingen?

- Aussetzen der EnEV 2016?
- Steuerliche Anreize zur Ankurbelung der privaten Investitionen?
- Mehr Baulandausweisung?
- Diskussion über die Grunderwerbssteuer?

Alles Aspekte, die helfen können, die Baukosten zu senken und Anreize für Projektentwickler zu schaffen.

Die Effekte des Flüchtlingsstroms auf den Einzelhandel sind eher indirekt. Dazu Scheunemann: „Ich glaube nicht, dass auf Grund der aktuellen Zuwanderung ein einziger Quadratmeter mehr Verkaufsfläche gebaut wird. Es sei denn, es wird doch gelingen, die Zuwanderung so zu steuern, dass diese sich auf Dauer in den kleineren Städten und ländlichen Gebieten niederlassen, also genau dort, wo die Einheimischen wegziehen und sich auch der Einzelhandel zurückgezogen hat. Vor allem Discounter und Supermärkte könnten an einzelnen Standorten Umsatzzuwächse erzielen. Innerhalb der Großstädte sehe ich eine Verkaufsflächenausweitung nur dann, wenn von Seiten der Stadtplanung wieder auf Großsiedlungen gesetzt wird.“

Und was wäre für den Büromarkt denkbar? Hier sind die möglichen Auswirkungen noch ungleich schwerer zu ermitteln. Mögliche Effekte auf den Arbeitsmärkten zeigen sich erst deutlich zeitverzögert. Untersuchungen des IAB (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung) zeigen, dass rund 50 % der Flüchtlinge/Migranten fünf Jahre nach Ankunft eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Voraussetzung ist, dass sie sich bereits im erwerbsfähigen Alter befinden. Schreibt man also diese 5-Jahresspanne fort und nimmt man weiter an, dass im Zeitraum 2015 bis 2020 rund 700.000 Flüchtlinge pro Jahr gezählt werden, so ergeben sich unter Berücksichtigung der Dauer von Asylanträgen und der Altersstruktur bis 2020 daraus rund 1,3 Mio. zusätzliche Erwerbspersonen. Aus diesem Rechenmodell würden sich rund 355.000 zusätzliche Erwerbstätige im Jahr 2020 ergeben, entsprechend einem Zusatzbedarf an Büroflächen von knapp 500.000 m². Zum Vergleich: Das ist der Büroflächenumsatz 2015 in Hamburg.

„Ein Amalgam aus Theorie, Annahmen, Szenarien. Was sonst in dieser Situation allgemeiner Ungewissheit? Letztendlich steht und fällt der Ausgang dieser historischen Völkerwanderung damit, wie es diesem Land gelingen wird, die Menschen in die Arbeitsmärkte zu integrieren. Arbeit wird die Tür für Integration sein. Der Schlüssel für diese Tür sind aber Immobilien. Und alles, was die Immobilienbranche hier beitragen kann, sollte sie auch tun. Von der Theorie über Annahmen und Szenarien bis hin zur Umsetzung in der Praxis“, so Helge Scheunemann.




Leserumfrage
Wir schätzen Ihre Expertenmeinung!
Hier ist unsere Leserumfrage:
schnell & unkompliziert
Jetzt starten!