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24.03.2023 Wir brauchen Kreativität und Neugier, um echte Lösungen zu entwickeln

Christopher Hammerschmidt. Foto © Benjamin Schenk
Christopher Hammerschmidt ist leidenschaftlicher Architekt mit internationalem Knowhow und Geschäftsführender Gesellschafter von D J H Architekten in Frankfurt und Berlin. Mit mehr als 50 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus 15 Nationen entwickelt und realisiert das Büro Großprojekte in Deutschland und Europa mit höchstem Anspruch an Ästhetik und Nachhaltigkeit. Das Spektrum realisierter Bauten reicht von Hochhäusern über Konzernzentralen bis zu Wohnquartieren. Zahlreiche Gebäude wurden mit nationalen und internationalen Architekturpreisen ausgezeichnet. Im Interview erfahren wir mehr über Hammerschmidts Ansätze zu „next level architecture“ und seiner Methode des Optioneerings.

Herr Hammerschmidt, welche persönlichen Eindrücke bringen Sie von der MIPIM mit nach Deutschland?

Christopher Hammerschmidt: Die MIPIM hat verdeutlicht, dass die Unsicherheit hinsichtlich Investitionen in Neubauprojekte ein globales Thema darstellt. Die gesamte Branche scheint sich in einem Modus des „Abwartens“ zu befinden. Begonnene Projekte werden noch fertiggestellt und neue Vorhaben auf nächstes Jahr verschoben. Ob es im nächsten Jahr aber wirklich leichter wird und Zinsen und Baupreise wieder sinken, ist fraglich. Wir erleben in der Immobilienbranche eine Phase der Neubewertung, der Neupositionierung und des Neudenkens.

Welche positiven Entwicklungen konnten Sie beobachten?

Christopher Hammerschmidt: Die meist gestellte Frage auf der MIPIM war: „What are your ESG-credentials?“ ESG-Kriterien und CO2 Neutralität werden immer bedeutender. Ressourcen minimiertes Bauen erhält größte Relevanz und es wird immer wichtiger, aus dem Bestand heraus weiterzubauen. Die maximale Ausnutzung eines Grundstücks ist nicht mehr so ausschlaggebend wie das Thema einer optimierten Planung und Materialverwendung. Das war vor ein, zwei Jahren noch ganz anders. Von großem Interesse sind technische Themen und Lösungsansätze wie beispielsweise Solarfassaden.

Lassen sich weitere neue Trends ausmachen?

Christopher Hammerschmidt: Der menschliche Maßstab kehrt in die Großprojekte zurück. Die Strukturen werden kleinteiliger. Ich beobachte eine sensiblere Einbettung in den Kontext und eine harmonischere Einbindung in die Landschaft. Monofunktionalität wird abgelöst durch eine lebendige Nutzungsmischung in hybriden Konstellationen. Büros sind nicht mehr nur funktionale Arbeitsplätze, sondern emotionale Erlebnisräume und Orte sozialer Interaktion.

Ihr Architekturbüro D J H positioniert sich mit der Überschrift next level architecture. Was verbirgt sich hinter Ihrer Botschaft?

Christopher Hammerschmidt: In nahezu allen Gesellschaftsbereichen und insbesondere in der Architektur kommen wir zu dem Verständnis, dass bisher bewährte Lösungen nicht mehr funktionieren. Städtebauliche Entwürfe, neue und vorhandene Gebäude, verwendete Materialien – alles müssen wir neu überdenken. Jahrzehnte lang galt ein Höher-Schneller-Weiter, dann folgte der Wunsch nach Technologie im Ausdruck von wilden Gebäudeformen und deren Machbarkeit. Das alles wurde durch die inhaltliche Frage „Wie kann ich etwas bauen, das vertretbar ist – ethisch, materiell, ressourcen- und klimagerecht?“ ersetzt, eine komplette Zeitenwende im Denken und Handeln. Das Verlangen, sich optisch über ausdrucksstarke Architekturen zu beweisen, ist gewichen. Heute bestimmt das inhaltliche Thema die Form des Ausdrucks. „Next level architecture“ bedeutet für uns, die Grenzen des derzeit Möglichen neu zu denken.

Von Architekten wird ein höchstes Maß an Sicherheit erwartet. Grenzen geben Sicherheit. Wie verträgt sich dieses „neu denken“ mit dem Sicherheitsbedürfnis der Auftraggeber?

Christopher Hammerschmidt: Über ein prozesshaftes, schrittweises Entwickeln von alternativen Szenarien stellen wir ein hohes Maß an Sicherheit und Transparenz her. Wir nennen diesen Prozess „Optioneering“. Dabei erarbeiten wir zu allen relevanten Themen verschiedene Varianten, um Qualität, Ästhetik, Kosten, Nachhaltigkeit und Funktionalität in Einklang zu bringen. Indem wir diese Varianten nebeneinanderstellen, können wir die geeignetste und nachhaltigste Lösung für das jeweilige Projekt ermitteln. Das Optioneering veranschaulicht unseren Kunden alle möglichen Optionen und Ausschlusskriterien und schafft damit eine Transparenz im Entscheidungsprozess, ein hohes Sicherheitsgefühl und großes Vertrauen.

Wie schaffen Sie es, diese Art des prozesshaften Entwerfens und komplexen Denkens erfolgreich umzusetzen?

Christopher Hammerschmidt: Der Teamgedanke im Büro steht ganz weit vorne. In jedem Projekt ist die Zusammenarbeit mit kompetenten Ingenieuren, Fachplanern und Wissensträgern in einzelnen Spezialbereichen extrem wichtig. Beispielsweise muss die Menge der eingesetzten Materialien ebenso beachtet werden, wie deren gesamter Lebenszyklus, die Empfehlungen der Energietechniker ebenso berücksichtigt werden, wie die Ansprüche des Bauherrn. Diese Vielzahl an Themen und Besonderheiten eines Projektes müssen gebündelt werden. Dabei liegt die Verantwortung bei uns Architekten, gemeinsam mit den Bauherren die optimale Lösung zu finden. Das ist heute anders als vor zehn, fünf oder sogar noch vor zwei Jahren. Steigende Baukosten erfordern eine hohe Effizienz bei der Materialwahl und bewirken letztendlich eine Ressourcenschonung. Mit intelligentem Engineering sparen wir Materialmengen ein und erzielen möglichst schlanke Lösungen. Durch europäische Gesetzgebungen, aber auch durch Eigenregulierungen von Investoren wächst der Zwang zu möglichst nachhaltigen Lösungen – und nicht zu möglichst billigen.

Die Bezeichnung einer „nachhaltigen Immobilie“ gibt viel Interpretationsspielraum. Was sind für Sie die wichtigsten, Nachhaltigkeitskriterien und wie verhandeln Sie diese mit Ihren Auftraggebern?

Christopher Hammerschmidt: Die ESG-Kriterien bilden die Basis für nachhaltige, soziale Komponenten eines Projektes. Dadurch kann vorab sehr transparent dargestellt werden, wie hoch beispielsweise der Verbrauch an Ressourcen, die benötigte Energie im Betrieb oder der CO2-Footprint ist. ESG stellt also einen wissenschaftlich basierten Teil dar, der gut angewendet und mit dem Bauherrn verhandelt werden kann. Darüber hinaus ist aber der emotionale Wert besonders wichtig für die Dauerhaftigkeit eines Projektes. Ein gutes Haus ist kein gutes Haus, nur weil es wenig Energie verbraucht, sondern weil es über 100 Jahre gut funktioniert mit dem Anspruch, einen maßgeblichen Teil zu der Stadt, dem Ort und der Straße beizutragen. Dieser emotionale Wert geht über alle wissenschaftlichen Erkenntnisse hinaus und ist für mich ein maßgebliches Kriterium an ein nachhaltiges Gebäude. Die Herausforderung der Architekten ist es nun, den aktuellen Diskurs zu wissenschaftlichen Daten und Erkenntnissen in Balance zu bringen mit der ursprünglichen Aufgabe von Architektur: Räume zu schaffen, die sich positiv auf die Stadt, die Nutzer und Atmosphäre auswirken und die es wert sind, lange zu erhalten.

Diese Wertvorstellung schafft in Zeiten des Wandels sicher eine gewisse Beständigkeit von Architektur. Inwiefern aber führt das neue Denken auch zu einer neuen Ästhetik in der Architektur?

Christopher Hammerschmidt: Die Materialität der Gebäude ändert sich. Die Funktionen von Oberflächen werden immer bedeutsamer. Fassaden und Dächer dienen nicht mehr nur der Verschattung und dem Regenschutz. Energieeffizienz und Energiegewinnung bekommen eine wachsende Bedeutung – Stichwort Photovoltaik. Das führt automatisch zu einer anderen Ästhetik. Aktuell entwickeln wir beispielsweise in Eschborn ein energieautarkes Bürohochhaus mit einer hochthermischen, aktiven Fassade, die bisher einzigartig und beispielhaft ist. Jeder Quadratzentimeter der Fassade wird genutzt.

Wie motivieren Sie Ihre Bauherren für neue Ansätze und innovative Lösungen?

Christopher Hammerschmidt: In allen Bereichen gibt es immer eine Speerspitze der Gesellschaft, die neue Ansätze und Innovationen vorantreiben möchte. In der Architektur ist die Kraft der faktischen Daten mittlerweile so groß, dass darüber ein Zwang entsteht, sich mit den Themen der Nachhaltigkeit, Ressourcenschonung und Klimaverträglichkeit zu beschäftigen. Daher sind immer mehr Investoren auf der Suche nach Experten, die das alles anbieten. Die Nachfrage nach ressourcenschonendem Bauen, Sanierungen und einer Beurteilung des Bestandes war noch nie so groß wie heute. Alle haben verstanden, dass Ressourcen endlich sind. Der behutsame Umgang mit dem Bestand hat somit Eingang in unsere tägliche Arbeit gefunden und bedarf nicht mehr so viel Überredungskunst wie noch vor ein paar Jahren. Ein aktuelles unserer Sanierungsprojekte, die Bürozentrale der GWH in Kassel, verdeutlicht beispielsweise die Vorteile des Bestandserhalts in Innenstadtlagen. Durch das ohnehin hohe Verkehrsaufkommen entstehen dort häufig Logistikprobleme im Bauprozess. Indem wir den Rohbau des Hochhauses aber weiterverwenden, können wir enorm viel Material einsparen und die Verkehrswege der gesamten Innenstadt entlasten. Der Bestandserhalt galt früher oft als zu ungewiss und es traten Gewährleitungsprobleme auf. Mittlerweile ist der Erhalt über das Schlagwort “ESG“ eine akzeptierte Methode und der Bestand wird zum attraktiven Vorzeigeprojekt.

Trotz aller guten Absichten gibt es nach wie vor die Meinung, ein Neubau sei günstiger als ein Bestandserhalt. Wie ist eine Sanierung ökonomisch darstellbar?
Christopher Hammerschmidt: Jedes Projekt ist eine Einzelfallbetrachtung, bei der wir immer einen offenen Abbildungsprozess führen, der die Vor- und Nachteile des Bestandserhalts und des Neubaus gegenüberstellt.

Hat der Bestand strukturell grundlegende Probleme, wie beispielsweise zu geringe Raumhöhen, oder zu geringe Deckenstärken, die zu akustischen oder statischen Problemen führen, stellt die Ertüchtigung einen extrem hohen finanziellen Aufwand dar. Gleichzeitig bietet der Bestand einen ganz grundlegenden Vorteil: Aktuell sind Baustoffe und Bauzeiten ein vorrangiges Problem. Bei einer Sanierung bleibt mindestens der Rohbau bestehen, Stahl und Beton sind also vorhanden. Das spart Zeit und Kosten und sichert einen gewissen Teil im Terminplan. Außerdem hat der Bestandserhalt einen echten Mehrwert hinsichtlich einer DGNB, LEED oder BREEAM Zertifizierung, die mittlerweile bei fast jedem Projekt angestrebt wird. Vorteile wie beispielsweise das konkrete Umfeld von Baulärm zu entlasten, da viele An- und Ablieferungen eingespart werden können, sind einfache und greifbare Faktoren, die immer schneller wahrgenommen werden und ausschlaggebend sein können.

Unabhängig von den Preissteigerungen, die wir aktuell erleben: Wird Architektur durch die steigenden Anforderungen, die sie erfüllen muss, immer teurer?

Christopher Hammerschmidt: Die Anforderungen, dass Architektur nicht nur gute Rahmenbedingungen zum Wohnen und Arbeiten schaffen, sondern sich auch positiv auf Klima und Gesellschaft auswirken soll, zeigt sich im gesellschaftlichen Diskurs und auch in den Kosten. Projektentwickler sind rein rechnerisch nicht mehr in der Lage, einen adäquat vermietbaren Wohnraum herzustellen. Ergebnis ist, dass sie ihre Aktivtäten drastisch reduzieren. Ähnliche Entwicklungen sind auch auf dem Büromarkt zu erkennen. Um die Frage zu beantworten: Ja, in den letzten Jahren hat sich eine deutliche Preissteigerung entwickelt, ich gehe aber auch davon aus, dass diese nicht zusätzlich weiter zunimmt. Gebäude sind in der Herstellung mittlerweile teurer, werden im Unterhalt aber günstiger, unter anderem durch einen geringeren Energiebedarf. Das ergibt einen langfristigen und ressourcenschonenden Mehrwert. Diese Entwicklungen müssen sich aber erst einmal einpendeln. Im Gewerbebereich werden die Mieten steigen müssen, dort wird es zu Anpassungen kommen. Gleichzeitig müssen im Wohnbereich neue Lösungen gefunden werden, beispielsweise mit mehr staatlicher Unterstützung, einer besseren Förderung des sozialen Wohnungsbaus, um mehr günstigen Wohnraum anbieten zu können. Der aktuelle Weg, diese Herausforderungen über den freien Markt selbst regeln zu lassen, funktioniert nicht. Es braucht konkrete Lösungen hinsichtlich der Regulatorien, der Genehmigungsabläufe, der Partizipationsprozesse und der zeitlichen Dimensionen zwischen Grundidee und Ausarbeitung. Der aktuelle Bedarf erfordert deutlich schnellere Reaktionen.

Welche Hebel könnten dies beschleunigen und gleichzeitig Qualitäten erhalten? Welche internationalen Vorgehensweisen könnten Ihrer Meinung nach vorbildhaft für Deutschland sein?

Christopher Hammerschmidt: In London gibt es beispielsweise das klassische B-Plan-Verfahren wie in Deutschland nicht. Dort wird für jedes einzelne Objekt eine Baugenehmigung erteilt. Einerseits fallen dadurch zwar gewisse Sicherheiten eines Bebauungsplans weg, andererseits ergeben sich dadurch deutlich einfachere Möglichkeiten für eine Stadt oder einen Bezirk, bestimmte Bereiche zu fördern und zu verbessern. Ohne einen B-Plan, ohne ein langjähriges Feststellungsverfahren kann schneller und einfacher auf den aktuellen Bedarf reagiert werden. Anhand eines konkreten Grundstücks werden gemeinsam mit den Bauherren, mit der Stadt und einer Gestaltungskommission architektonisch hochwertige Qualitäten erreicht. Derartige Modelle und Vorgehensweisen sollten in Deutschland auch in Betracht gezogen werden, um für die aktuellen Herausforderungen schnellere Lösungen zu erzielen.

Dieser ganzheitliche Denkansatz erfordert viel Verantwortung und ein hohes Maß an Verantwortungsgefühl. Überfordern wir womöglich die Architektur oder auch die Architekten und Architektinnen?

Christopher Hammerschmidt: Ja und nein. Der klassische Architekt wäre überfordert. Diesen gibt es aber nicht mehr. Bauvorhaben sind viel komplexer als früher und erfordern eine Vielzahl an Spezialisten. Der gesamte Planungsprozess ist also das Zusammenwirken im Team. Der Architekt behält das Ziel vor Augen und führt das Team mit allen Fachkompetenzen und Bereichen zusammen. Heutzutage haben wir außerdem ganz andere Möglichkeiten und viel intelligentere Planungsmittel. Wir können mit 3D-Modellen ebenso wie mit Handskizzen arbeiten, wir haben digitale Darstellungsmöglichkeiten, die Projekte visuell erfahrbar machen und gleichzeitig eine Datengrundlage zur weiteren Bearbeitung darstellen. Und das ist natürlich ein ganz anderes Arbeiten, ein ganz anderes Berufsbild als früher, aber auch eine sehr positive Entwicklung.

Kommen wir mit einer persönlichen Frage abschließend zurück auf Ihre Idee von „next level architecture“: Gab es ein Schlüsselereignis für Sie, ab jetzt alles anderes zu machen? Oder ist Ihr heutiges Vorgehen das Ergebnis eines evolutionären Prozesses?

Christopher Hammerschmidt: Wie alles war natürlich auch meine Entwicklung ein Prozess. Die Erfahrungen Anfang der 2000er Jahre in London bei BDP architects und als Associate Partner bei Norman Forster waren sehr einflussgebend. Dort war ich verantwortlich für eines der ersten großen 3D-Modelle und unfassbar beeindruckt davon, virtuell durch das Projekt laufen zu können. Bis ins kleinste Detail konnten wir verschiedene Varianten relativ einfach entwickeln. In der Zeit formte sich meine Begeisterung dafür, neue Wege zu gehen. Ein paar Jahre später plante ich die Konzerthalle in St. Etienne, die ein Leuchtturmprojekt darstellte. Das nachhaltige Denken, mit den schwierigen regionalen Gegebenheiten umzugehen, und das Entwickeln einer innovativen Lösung mit Nachtauskühlung und Nachtlüftung waren ganz neu und wegweisend. In Deutschland sind wir nun endlich an dem Punkt, mit „next level architecture“ neue Ideen entwickeln zu können, um die sinnvollsten und durchdachtesten Lösungen umzusetzen.

„Gute Gebäude sind meist der optimierte Ausdruck ihrer Funktion. Besonders gute Gebäude schaffen es, mehr zu sein und uns zu inspirieren.“ – Christopher Hammerschmidt

(Das Gespräch führten Prof. Jan R. Krause und Maike Groschek. office for architectural thinking)




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