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24.04.2024 Produktive Quartiere: Katalysatoren für Wachstum und soziale Stabilität

Einige der großen gesellschaftlichen Herausforderungen wie Energiewende, Mobilität, demographischer Wandel, Digitalisierung, Wandel der Arbeitswelten, soziale Gerechtigkeit und Gesundheit sind Themen, die auch unsere Stadtplanung in den nächsten Jahrzehnten beschäftigen werden. Die Frage, der wir uns im Wirkungsfeld dieser Herausforderungen stellen müssen, ist, wie wir diese in unsere Stadt-Ökologien und Ökonomien integrieren und so mit lokalen Denkansätzen ganzheitliche Lösungen herbeiführen können.

In Folge der Transformation von einer Industriegesellschaft zu einer Dienstleistungsgesellschaft, angetrieben durch Megatrends wie der Globalisierung und Digitalisierung, vollzog sich eine tiefgreifende Wandlung der ökonomischen Basis der Städte. Das produzierende Gewerbe wurde nach und nach aus den Städten gedrängt. Die Verdrängung produzierenden Gewerbes aus den Städten war formell auch eine Entwicklung, die in der Nachkriegszeit durch die 1962 in Kraft getretene Baunutzungsverordnung, insbesondere dem Leitbild der „Charta von Athen“ folgend, eine Trennung der Funktionen von Wohnen, Arbeit, Produktion und Erholung vorsah und begünstigt durch den immer stärker motorisierten Individualverkehr Einzug in das öffentliche Baurecht gefunden hat. Bis zur Novellierung des Städtebaurechts 2017 war es besonders schwierig auf der Ebene von Quartiersentwicklungen eine angemessene Mischnutzung zu gewährleisten, um so auf die veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen reagieren zu können. Neue Technologien, die Produzenten und Konsumenten in ein neues Verhältnis bringen, begünstigen die Abkehr von der in Funktionen getrennten Stadt, die dringend nötig war.

Um die durch die Bundesregierung und EU gesteckten Klimaziele zu erreichen, die Wirtschaft bis 2050 zu dekarbonisieren, können neugedachte Quartierskonzepte als Teil der Gesamtstrategie von großer Bedeutung sein.

Im Zuge der Energiewende sollte der Fokus auf Energie- und Wärmenetze und auf lokale Sektorkopplung gelegt werden. Dabei wird von entscheidender Bedeutung sein, die Quartiere so weit wie möglich energieautark und selbstversorgend zu gestalten. Dies würde die Versorgungssicherheit gewährleisten und Abhängigkeiten reduzieren. Außerdem bestünde die Möglichkeit durch Verdichtung und Durchmischen von Quartieren auch mögliche Erzeugungskapazitäten zu bündeln und die Vernetzung von Wohn- und Nichtwohngebäuden, öffentlichen Einrichtungen, Freiflächen, Industrie, Handel und der lokalen Verkehrsinfrastruktur zu gewährleisten. Wohngebäude könnten z.B. als Wärmesenken für das produzierende Gewerbe dienen. Durch die Nutzung der Abwärme könnten angrenzende Wohnquartiere mitversorgt werden, wie das Beispiel der Manner AG in Wien zeigt. Auf der anderen Seite könnten Gebäude durch die Integration von Photovoltaik zu kleinen Kraftwerken einer dezentralen Energieversorgung werden und diese unter Einsatz von „Smart Grids“ zu vernetzen, zu dezentralisieren und mit dem Ort des Verbrauchs zu verbinden.

Wenn Flächen effizient genutzt werden sollen, gilt es auch ungewöhnliche Kombinationen zuzulassen, um so Bausteine für lebendige Quartiere zu schaffen, die Wohnen, Arbeiten und Freizeit miteinander verbinden und Synergien entstehen lassen. Gegenläufige Tagesrhythmen ermöglichen es, Ressourcen zu teilen und mehrfach zu nutzen, z.B. Stellplätze für PKW’s, oder schlichtweg die verfügbare Energie. Hybride Gebäude mit gestapelten Nutzungen können im Quartier eine ungeahnte positive Dynamik entfalten.

Durch die Weiterentwicklung der Produktionstechniken und vor allem durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bieten sich interessante Gestaltungsoptionen für die Stärkung von Produktionsstandorten in den Städten. Dadurch bieten sich auch Wettbewerbsvorteile für die Industrie durch den Zugang zu hochqualifizierten Fachkräften, die räumliche Nähe zu Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen sowie Kooperationspartnern und die Verfügbarkeit entwickelter logistischer Systeme. Entscheidend sind dabei nicht zuletzt die konsequente Reduktion der Emissionsbelastungen und die Einbindung in stadtverträgliche Logistiksysteme. Dass urbane Produktion in unmittelbarer Nähe zum Wohnen möglich ist, kann man auch an dem Beispiel der Fabrik WITTENSTEIN SE in Fellbach beobachten, indem durch emissionsarme Produktionsweisen und Gebäudestrukturen, Konflikte zwischen Produktion und Wohnen entschärft werden konnten.

Es muss ein neues Verständnis und eine neue Planungspraxis für das Verständnis von Arbeiten und Wohnen entwickelt werden, die der Lebenswirklichkeit der Menschen im 21. Jahrhundert entsprechen und sozialen Konflikten entgegenwirken. Im Planungsrecht wurde im Jahr 2017 das »urbane Gebiet« neu eingeführt, in dem neben Wohnen auch Gewerbe, Handel, Verwaltungen und soziale Nutzungen zulässig sind. Damit kehrt das Planungsrecht zurück zu einem traditionelleren Verständnis, in dem Städte immer ein Nebeneinander, Übereinander und Miteinander von Wohnen, Produktion, Dienstleistung, Handel und Kultur waren. Die produktive Stadt des 21. Jahrhunderts ist eine Chance für eine Rückbesinnung auf dieses konstruktive, lebendige Neben- und Miteinander.

Die neu eingeführte Gebietskategorie „Urbane Gebiete“ kann als Auftakt verstanden werden, um Mischungs- und Dichteziele in der Stadt konsequenter zu realisieren, sowie die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung und das damit verbundene Ziel zur Reduzierung der Inanspruchnahme von Neuflächen zu forcieren. Ob die Einführung des urbanen Gebiets als neue Gebietskategorie in der Erreichung der Ziele der neuen „Leipzig Charta“ von 2020 hin zu einer stärkeren Verdichtung, einer Stadt der kurzen Wege und einer größeren Durchmischung das richtige Instrumentarium ist, wird sich in den nächsten Jahren erst herausstellen.

Auf dem Weg dorthin sollte noch einmal kritisch geprüft werden, ob § 17 der BauNVO noch zeitgemäß ist und nicht eher hinderlich in der Erreichung der Ziele der „Leipzig Charta“. Der §1 Abs. des Baugesetzbuchs (BauGB) gibt schließlich einen ausreichenden Rahmen vor, um alle gesellschaftlich relevanten Aspekte einzubeziehen und würde so einen größeren Handlungsspielraum für mehr Vielfalt gewährleisten.

Um der urbanen Produktion den Weg zu ebnen, sollte eine Änderung der aktuellen Rechtslage erfolgen, da in den Gebietskategorien der Baunutzungsverordnung, Gewerbegebiete und Industriegebiete zwar beschrieben sind, aber der Begriff des produzierenden Gewerbes im Planungsrecht nicht weiter definiert ist.

Die produktive Stadt stärkt die Identifikation mit dem Ort, trägt zur Innovation bei und führt Produzenten und Konsumenten wieder näher heran. Im Idealfall wird die produktive Stadt eine dichtere Stadt der kurzen Wege und damit auch ökologischer als dezentrale Stadtstrukturen und kann entscheidend zur Dekarboniserung der Städte beitragen.

Eine Neuorientierung ist dringend notwendig und bedingt sich auch schon allein aus dem Rückzug des stationären Einzelhandels, aufgrund des wachsenden Onlinehandels.

Hier liegt eine Chance für die produktive Stadt mit Gebäuden, in denen Wohnen und Arbeiten in unterschiedlichen Verhältnissen gemischt werden können. Die Nähe zur Produktion bietet auch einen neuen Ansatz für den Einzelhandel, wie schon heute viele Modegeschäfte mit angelagerter Produktion zeigen.

Auf dem Weg zur produktiven Stadt muss auf verschiedenen Ebenen gehandelt werden. Der Neubau trägt jährlich nur einen Bruchteil zur Erneuerung der Bausubstanz bei. Wenn also eine deutlich sichtbare Veränderung stattfinden soll und neue produktive Stadtquartiere entstehen sollen, so kann eine signifikante Veränderung nur durch eine Durchmischung von verschiedenen Nutzungsarten und Nachverdichtung in den bestehenden Quartieren angegangen werden.

Der Nachverdichtung und dem Umbau der zentrumsnahen Gewerbegebiete kommt eine besonders wichtige Rolle zu. Diese weisen eine niedrige Bebauungsdichte mit großen Hallen, Freiflächen, sowie einem hohen Versiegelungsgrad auf und bieten so ein großes Potential zur Nachverdichtung, indem man Gewerbeflächen mischt und stapelt und so die verfügbaren Flächen effizienter nutzt und dabei hilft, zum einen die Versiegelung von Flächen zu reduzieren und gleichzeitig Freiräume schafft, die eine Aufenthaltsqualität für die dort arbeitende Bevölkerung bietet. Denkbar und gewünscht sind dabei auch Ideen, das Wohnen in diese Gebiete zu integrieren oder zumindest in unmitttelbarer Nähe. Eine entscheidende Maßnahme, um dies zu erreichen, wäre die Hemmnisse des strikten Trennungsgrundsatzes im Bundesimmissonsschutzgesetzes zu ändern oder aufzulösen, da diese die gewollte Mischung in vielen Fällen aufgrund der aktuellen Rechtslage verhindert.

Das Immissionsschutzrecht muss dem heutigen Stand der Technik und der städtebaulichen Ziele angepasst werden. Die Regelung der TA Lärm zur Bemessung und Festlegung des Immissionsortes von 0,5 Metern, mittig vor dem geöffneten Fenster von Wohnungen, ist nicht zeitgemäß. So werden die hohen Schalldämmmaße, die heutzutage durch Fenster erreicht werden, gar nicht berücksichtigt. Sinnvoll wäre es, mit Ausnahme besonders schutzwürdiger Außenraumnutzungen, auf Innenpegel abzustellen. Der Immissionsschutz ist notwendig, aber die Verfahren zur Beurteilung und Messung sind überholt und müssen überdacht werden. Mit einigen Maßnahmen und Änderungen in der Gesetzgebung, könnten dies eine große Hebelwirkung erzielen, zu Gunsten einer Mischung aus Arbeiten und Wohnen. Unabhängig vom produzierenden Gewerben, könnte auch eine enormer Hebelwirkung zu Gunsten einer Transformation von nicht mehr revitalisierbaren Bürogebäuden in Gewerbe- und Kerngebieten zu Wohnen erzielt werden.

Durch die Neuordnung zentrumsnaher Gewerbegebiete kann auch eine Verzahnung mit innerstädtischen Stadtgebieten stattfinden und so der Entflechtung und Zerklüftung peripherer Stadtgebiete entgegengetreten werden.

Es wird deutlich, dass der Weg zur produktiven Stadt nicht nur eine planungsrechtliche Aufgabe ist, sondern auch stadträumliche und architektonische Konzepte entwickelt werden müssen, die das enge Nebeneinander von unterschiedlichen Nutzungen räumlich und zeitlich so organisieren, dass Konflikte minimiert, Synergien genutzt und lokale Wirtschaftskreisläufe gestärkt werden können.

Die produktive Stadt könnte nicht nur dazu führen die soziale Struktur der Städte zu stabilisieren, sondern auch unabhängiger zu machen. Innovative emissionsarme Fertigungsprozesse der Industrie 4.0 auf Basis urbaner nachhaltiger Materialströme können die Verträglichkeit von Produktion im urbanen Raum nah am Kunden ermöglichen. Dabei kann es sich um Klein- und Mittelbetriebe handeln, die z.B. auf eine lokale Nachfrage ausgerichtet sind.

Die Mischung von produzierendem Gewerbe, Dienstleistungen und Wohnen in der produktiven Stadt führt unweigerlich zu Reibung und Anpassungsprozessen. Vor allem begegnen sich in der Stadt Menschen mit unterschiedlichen Lebensstilen, Bedürfnissen und Tagesabläufen. Genau in diesen Begegnungen und Prozessen liegen die Risiken aber auch die Chancen der Stadt.

Das Beispiel Manner in Wien zeigt, dass eine Symbiose möglich ist. Das Unternehmen speist Abwärme aus den Backöfen in ein lokales Fernwärmenetz ein. Etwa 600 Haushalte und Betriebe profitieren davon. Dafür müssen die Anrainer mit dem Lieferverkehr bis um 18 Uhr Abends leben.

Die Craft-Beer-Brauerei in der Innenstadt, die Schokoladen-Manufaktur um die Ecke, das Brillengeschäft, das selbst die Gestelle herstellt – immer mehr Unternehmen produzieren ihre Waren vor Ort. Die Reintegration von Produktion in urbane Räume muss sich angesichts der aktuellen klimatischen und ökologischen Herausforderungen in den Städten vor allem an der Umweltfreundlichkeit der Produktions- und Vertriebsweisen messen lassen.

Gemischte Quartiere mit einem Anteil an Produktion benötigen ganzheitliche Konzepte, die innovative und wettbewerbsfähige Produktions- und Vertriebsweisen mit nachhaltigen Mobilitätsangeboten und den Belangen der Umwelt in Einklang bringen, um Win-Win-Situationen für die Stadt, Unternehmer und Bewohner zu schaffen. Dabei sind nutzungsoffene Strukturen gefragt, um auf verändernde Umstände und Nachfragen reagieren zu können.

(Autor: Resul Kilic, Projektentwickler)























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