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23.03.2022 Urban Evolution: Wie Städte knappen Raum effizienter nutzen

Die Immobilienbranche steht vor einem Dilemma: Nachhaltigkeit und verantwortungsbewusster Umgang mit Ressourcen ist das Gebot der Stunde – zugleich werden immer mehr Flächen nachgefragt. Besonders in den Städten ist Raum bereits knapp. Zwei Lösungsansätze hat der Immobiliendienstleister JLL zusammen mit der schweizerischen Strategie-Boutique Arthesia im Konzeptpapier „Urban Evolution“ zusammengefasst. Die Kernpunkte: Vertical Farming und Neomanufacturing. Ersteres erlaubt durch den vertikalen Anbau von Lebensmitteln, dass die Grundfläche um ein Vielfaches effizienter genutzt wird. Neomanufacturing weicht derweil die strikte Trennung der Nutzungssektoren der Stadt auf. Es bietet so die Möglichkeit, kleine Betriebe wieder in Wohngebieten anzusiedeln und wertet dieses Quartier durch breiteren Mix auf. Eine wichtige Voraussetzung für beides: die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft.

Vertical Farming – effizienter Lebensmittelanbau durch Technik und Sensorik
Helge Scheunemann, Head of Research JLL Germany, erklärt den Anbau von pflanzlichen oder tierischen Produkten in mehreren übereinander liegenden Ebenen: „Wir verstehen unter Vertical Farming die industrielle, großräumige Erzeugung von landwirtschaftlichen Produkten wie Salat, Beeren und Kräuter. Möglich macht es die technische Fortentwicklung des LED-Lichts sowie die Steuerung durch Sensorik. Im Vergleich zur klassischen Landwirtschaft kann die Leistungsfähigkeit des Quadratmeters Grundfläche je nach Produkt um das bis zu hundertfache gesteigert werden.“ Zugleich betont Scheunemann die Abgrenzung zum bereits etablierten Urban Gardening, das meist von Selbstversorgern genutzt wird.

„Durch den Klimawandel steigt das Risiko von Ernteausfällen, wodurch Liefer- und Versorgungsengpässe schon zu Mitte dieses Jahrhunderts dramatisch zunehmen werden. Besonders im Pflanzenbau bestimmt das Klima maßgeblich, welche Arten angebaut werden können. Die Witterungsbedingungen einer Vegetationsperiode sind entscheidend für die Höhe und Qualität des Ertrags der landwirtschaftlichen Kulturen. Diese Faktoren können durch den Einsatz neuer Technologien im Rahmen des Vertical Farmings eliminiert werden“, sagt Arthesia-Gründer Thomas Sevcik, der als Ideengeber bereits die Wolfsburger Autostadt prägte.

Bei der Umsetzung kommt der Immobilienwirtschaft eine wichtige Rolle zu, müssen für das Vertical Farming geeignete Fläche identifiziert und umgenutzt werden. Infrage kommen dafür Lagerhallen in der innerstädtischen Peripherie – der sogenannten Zwischenstadt – aber auch Parkhäuser, Supermarkt-Dächer oder Büroimmobilien, soweit sie über die nötige Deckenhöhe verfügen.

„Aus Immobilieninvestorensicht ist Vertical Farming als Nischenprodukt einzustufen. Für langfristige und innovativ denkende Investoren, die Mut zu einer stärkeren Durchmischung ihrer Portfolien zeigen, sind diese Immobilien eine interessante Alternative abseits der traditionellen Anlageklassen“, ordnet Helge Scheunemann diese Objekte ein. Gesucht sind innerstädtisch vor allem Flächen zwischen 1.000 und 5.000 m². In ganz Deutschland gibt es für Vertical Farming potenzielle Lagerimmobilien mit einer Gesamtfläche von rund 50 Mio. m². Nach JLL-Recherchen liegen die Mietlaufzeiten in der Regel zwischen fünf und zehn Jahren.

Neomanufacturing – die Rückkehr der Produktion in die Wohngebiete

„Neomanufacturing bezeichnet die Herstellung und Bearbeitung materieller Güter in dicht besiedelten Wohngebieten, die häufig lokale Ressourcen und lokal eingebettete Wertschöpfungsketten nutzt. Innovative Technologie und Werkstoffe ermöglichen die Herstellung individueller Produkte in häufig kleinen Stückzahlen“, schildert Scheunemann. Industriebetriebe, die sich in abgegrenzten Gewerbe- oder Industriegebieten – wenn auch innerhalb der Stadtgrenzen – befinden, sind damit nicht gemeint.

Innenstadtbereiche und Quartiere bieten gute Voraussetzungen für Neomanufacturing, doch das größte Potenzial bieten die Stadtteillagen: „Der Raum zwischen der Innenstadt und der Stadtgrenze bietet viele interessante Lagen und Brachflächen, die im Zuge einer Umnutzung auch für Produktionsbetriebe in Frage kommen können. Dieser Zwischenstadt haftet oft ein Image blasser Areale mit geringer Aufenthaltsqualität an. Geplant waren diese Bereiche früher entweder als klassische Industrie- oder als monofunktionale Bürostandorte. Nun geraten sie in das Blickfeld einer neuen Stadtplanung“, analysiert Thomas Sevcik das Potenzial.

Meist sind diese Lagen und Grundstücke sowohl im Erwerb als auch in der Anmietung deutlich günstiger als in der City. Da Neomanufacturing meist individualisierte höherpreisige Güter betrifft, sind Lagen mit kaufkräftigem und eher trendigem Publikum präferiert, während sich klassische Gewerbegebiete kaum eignen.

Die Nachfrage von Investoren nach Immobilien, in denen potenziell Neomanufacturing untergebracht sein kann, ist ausgesprochen hoch. „Auf dem deutschen Immobilieninvestmentmarkt wurde 2021 mit einem Transaktionsvolumen von über 110 Mrd. Euro ein neuer Rekord verzeichnet. Auch für das Segment Logistik-Industrie wurde eine neue Bestmarke erzielt, mit mehr als zehn Milliarden Euro floss 2021 so viel Kapital wie nie zuvor in Produktionshallen, Distributionsimmobilien oder Light-Industrial-Objekte“, kalkuliert Helge Scheunemann. Letztere kamen vergangenes Jahr auf einen Anteil von knapp 1,5 Mrd. Euro. In den Big-7-Märkten sehen die Autoren für Neomanufacturing ein Flächenpotenzial in leerstehenden Erdgeschossen in Bürogebäuden der „Zwischenstadt“ von rund 186.000 m². Die durchschnittliche Fläche liegt bei 664 m².

Thomas Sevcik fasst zusammen: „Vertical Farming hat das Potenzial, ungenutzte Hallen, die aus geometrischen oder geographischen Gründen für Logistik nicht optimal geeignet sind, einer neuen Nutzung zuzuführen. Vertical Farming steht in Deutschland noch am Beginn seiner Industrialisierungsphase. Der Immobiliensektor ist bei der weiteren Entwicklung ein wichtiger Akteur und Begleiter.“

Neomanufacturing eröffnet die Möglichkeit, zunehmend produzierendes Gewerbe in die Städte zu integrieren und damit den Funktionsmix zu erweitern. Denn: „Städte haben das Ziel, zur produktiven, inklusiven und vielfältigen Stadt zu werden. Im Zuge der Urbanisierung gewinnen Stadtmarken im Vergleich zu Ländermarken an Bedeutung. Unternehmen werden zu Markenbotschaftern für Städte und stärken deren Attraktivität für gut ausgebildete Talente. Noch mangelt es an vorzeigbaren und herausragenden Leuchtturmprojekten. Daher sollten Projektentwickler Mut zeigen und vermehrt auch derartige Nutzungsarten ins Auge fassen“, appelliert Helge Scheunemann.








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