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25.02.2022 Ukraine-Krise: Für Börsen nicht neu, aber sicher nicht in diesem Ausmaß

Die Ukraine-Krise ist für die Börsen nicht neu und dürfte daher grundsätzlich schon lange eingepreist sein, sicherlich aber nicht im Ausmaß der heutigen Entwicklungen. An den Börsen muss die veränderte Lage daher zunächst einmal eingeordnet werden. Entsprechend groß ist derzeit die Verunsicherung. Bis gestern waren Anleger offensichtlich nicht von einer totalen Eskalation im Sinne eines über die Ostukraine hinausgehenden Einmarschs Russlands ausgegangen. Entscheidend ist jetzt, wie lange die Militäroperation andauert, wie weit russische Truppen in die Ukraine vordringen und welche Reaktionen aus dem Westen und aus China erfolgen. An den Aktienmärkten führt die Korrektur der bisherigen Erwartung eines moderaten Konfliktverlaufs zunächst für einen deutlichen Abverkauf. Auf den DAX bezogen könnte als Haltelinie unter charttechnischen Gesichtspunkten kurzfristig die Marke von 13.566 Punkten ins Spiel kommen. Bis mehr Klarheit herrscht, dürften sichere Häfen wie Bundesanleihen, US-Dollar und Gold gefragt bleiben.

Die außenwirtschaftlichen Verbindungen Deutschlands mit Russland und der Ukraine sind mit einem Anteil von 2,3 bzw. 0,3 Prozent am gesamten deutschen Außenhandel überschaubar. Die wichtigste Frage ist, ob es durch Sanktionen zu einem Abschneiden Russlands vom internationalen Zahlungsverkehr und folglich möglicherweise zu einer Einstellung von Erdgaslieferungen kommen könnte. Bisher hat Russland aber seine Lieferverpflichtungen immer erfüllt, daher würde enormer Schaden bzgl. der Einschätzung der Zuverlässigkeit Russlands entstehen. In diesem Fall wären Zahlungsausfälle russischer Schuldner mit Rückwirkungen auf einzelne Banken oder Gläubiger in Europa und weiter steigende Energiepreise wahrscheinlich. Da der Winter bisher relativ mild verlief, ist trotz relativ gering gefüllter Erdgaslager in Europa zunächst nicht mit Rationierungen zu rechnen, wie Analysen des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) bestätigen.

Bisher ist die Lage zu unübersichtlich, um sich neu zu positionieren, Absicherungen sollten vorerst beibehalten werden. In der Vergangenheit haben kriegerische Auseinandersetzungen zumeist nur kurzfristige Rücksetzer an den Aktienmärkten zur Folge gehabt. Allerdings ist noch nicht absehbar, wie tief die Kurse tatsächlich rutschen können. Solange der Umfang des russischen Vormarsches und das Ausmaß der Sanktionen klar ist, sollten sich Anleger zurückhalten.

In den USA dürfte der vorgesehene geldpolitische Straffungszyklus ungeachtet der aktuellen Entwicklungen ab März beginnen. Die EZB wird am 10. März ihre adjustierten Projektionen für Inflation und Wirtschaftswachstum in der Eurozone veröffentlichen. Die Erwartung war, dass auf dieser Basis auch der weitere geldpolitische Kurs genauer abgesteckt wird. Sollte die Unsicherheit bis dahin anhalten und entsprechend realwirtschaftliche Auswirkungen für die Eurozone noch unklar sein, dürfte sich EZB-Präsidentin Lagarde weiterhin vorerst mit konkreten Ankündigungen zurückhalten. Nach Berechnungen des IW ginge ein Verharren des Gaspreises auf dem Niveau des 4. Quartals 2021 für Deutschland eine höher als bisher erwartete Inflation in Höhe von 4,3 Prozent in 2022 sowie 4,5 Prozent in 2023 zur Folge.

Das deutsche BIP-Wachstum dürfte um 0,2 bzw. 0,7 Prozent geringer ausfallen. Bei einem Anstieg der Gaspreise um weitere 50 Prozent wäre mit einer Inflation in Höhe von 6,1 Prozent in 2022 und 5 Prozent in 2023 sowie einem geringeren BIP-Wachstum in Höhe von 1,4 Prozent zu rechnen.

Grundsätzlich bleiben die globalen wirtschaftlichen Perspektiven für die kommenden Monate positiv, auch wenn sich kurzfristig die Konsumentenstimmung kriegsbedingt eintrübt. Die Industrie profitiert von einem erheblichen Nachfrageüberhang, der im Zuge sich langsam stabilisierender Lieferketten abgebaut werden kann. Dienstleister und Handel blicken optimistisch auf weitere Lockerungen von Corona-Restriktionen. Selbst weitere steigende Energiekosten werden in einem inflationären Umfeld an Endverbraucher durchgereicht werden können. Unser Basisszenario ist daher, dass sich die internationalen Kapitalmärkte in einigen Wochen vom Ukraine-Schock erholt haben werden. Eine fundamentale Neueinschätzung der Lage müsste wohl nur vorgenommen werden, wenn NATO-Truppen in den Konflikt involviert werden würden.

(von Carsten Mumm, Chefvolkswirt bei der Privatbank DONNER & REUSCHEL)





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