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06.09.2021 Umbau statt Neubau: Die Ökobilanz spricht für die Sanierung

Ulrike Elbers. Foto: Ulrich Rossmann
Dass der Pritzker-Preis in diesem Jahr an die Architekten Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal vergeben wurde, setzt in meinen Augen ein wichtiges Signal. Denn ihr Ansatz des klimagerechten Bauens ist vorbildlich. Nach der Maxime „Umbau statt Neubau“ arbeitet das mehrfach ausgezeichnete Duo mit dem Vorhandenen. Abriss lehnen die Preisträger als überflüssige Verschwendung ab. Diese Kultur des Sanierens, Modernisierens und Adaptierens an zeitgemäße Ansprüche wird bei der Erreichung der Klimaziele eine Schlüsselrolle spielen.

Gemäß dem kürzlich verschärften Klimaschutzgesetz soll Deutschland bis zum Jahr 2045 klimaneutral werden. Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, müssen die CO2-Emissionen im Gebäudesektor in den kommenden Jahren sukzessive gesenkt werden. Mit rund 51,7 Milliarden Tonnen Baumaterialien ist der 22 Millionen Gebäude umfassende Bestand unser größtes Rohstofflager. Würden diese Materialien beim Abriss konsequent wiederverwendet, wäre der jährliche Bedarf an Rohstoffen deutlich geringer. Zudem ließe sich durch die Wiederverwendung vorhandener Materialien, die bereits in den Gebäuden gebundene sogenannte graue Energie nutzen und der CO2-Ausstoß im Vergleich zu Abriss und Neubau um bis zu 70 Prozent senken.

Graue Energie weiter nutzen, statt neue zu erzeugen

Die graue Energie bezeichnet die kumulierte Primärenergie, die für Rohstoffgewinnung, Herstellung, Transport, Wartung, Abriss und Entsorgung eines Gebäudes aufgewendet werden muss. Viele Baustoffe sind in der Produktion energieintensiv. So wird beispielsweise Zement bei Temperaturen von 1450 Grad Celsius unter hohem Verbrauch an fossilen Energien hergestellt. Entsprechend hoch ist der CO2-Ausstoß, der bei rund 600 Kilogramm pro Tonne liegt. Davon sind ein Drittel Brennstoff- und zwei Drittel rohstoffbedingte Prozessemissionen.

Um ihren Beitrag zur Erreichung der Klimaziele bis 2045 zu leisten, ist die Baustoffindustrie gefordert, Strategien zur Senkung ihrer Treibhausgasemissionen zu entwickeln. Die Maßnahmen reichen vom Wechsel auf regenerative Energieträger, über die Umstellung auf emissionsarme Produktionsprozesse bis zur Abscheidung und Speicherung prozessbedingter CO2-Emissionen.

Bis die klimaneutrale Transformation der Baustoffindustrie abgeschlossen ist, werden die zur Gebäudeerstellung benötigten Materialien allerdings noch mit dem heute zur Verfügung stehenden Energiemix hergestellt. Im Jahr 2020 wurde rund 50 Prozent des deutschen Energiebedarfs aus regenerativen Quellen gedeckt, die anderen 50 Prozent aus Braunkohle, Steinkohle, Erdgas und Kernkraft. Das führt zwangsläufig dazu, dass selbst in neu gebauten Gebäuden ein großer Anteil grauer Energie steckt. Ein Gebäude, das heute gebaut wird, steht bei einer Nutzungsdauer von 60 Jahren bis zum Jahr 2081 – inklusive der in ihm gespeicherten grauen Energie. Statt durch Abriss und Neubau zusätzliche graue Energie zu erzeugen, ist es ökobilanziell also sinnvoller, durch Sanierung oder Umbau auf die bereits verbaute graue Energie aufzubauen.

Entwurf und Planung entscheiden über graue Energie

Im architektonischen Entwurf und der Planung werden die Weichen für die graue Energie eines Gebäudes gestellt. Mit optimierter Geometrie, intelligenten Konstruktionen, reduzierter Gebäudetechnik und langlebigen Materialien lassen sich neue Maßstäbe setzen. Die wichtigsten Stellschrauben sind das Tragwerk, gefolgt von der Fassade, der Gebäudetechnik und dem Ausbau. Kompakte Baukörper mit schlanken und effizienten Tragsystemen reduzieren den Anteil an grauer Energie, das Bauen von Tiefgaragen und besonders hohen Gebäuden sowie Fassaden mit viel Glas und Aluminium erhöhen ihn.

Langlebigkeit und Wiederverwertbarkeit als Maxime

Prinzipiell setzt sich ein Gebäude aus verschiedenen Komponenten mit unterschiedlichen Funktionen und Nutzungsdauern zusammen. Während das Tragwerk 100 Jahre und mehr stehen kann, müssen Fassaden und Gebäudetechnik im Laufe des Lebenszyklus mehrfach ersetzt werden. Deshalb ist es sinnvoll, die einzelnen Komponenten im Gebäude getrennt voneinander zu betrachten und für jede Komponente eine maßgeschneiderte Lösung zu entwickeln. So sollten bei der Konzeption des Tragwerks Langlebigkeit und Adaptierbarkeit im Vordergrund stehen, Fassaden und Gebäudetechnik hingegen nach den Prinzipien des Rückbaus, Recyclings und der Wiederverwertbarkeit konzipiert werden. Generell gilt, dass Materialien, die bei der Herstellung einen hohen Anteil energie- und prozessbedingter CO2-Emissionen verursachen, durch weniger CO2-intensive Materialien und Recyclingbaustoffe ersetzt werden sollten.

Sanierung als Ökobilanzgewinn

Welchen Beitrag Bestandsgebäude zur klimaneutralen Transformation unserer Städte leisten können, lässt sich in unserer Broschüre Transform & Reuse - Low-Carbon Futures for Existing Buildings nachlesen. Die Ergebnisse liefern überzeugende Argumente für die Revitalisierung und Konversion des Bestandes: Teilweise konnten die ursprünglichen CO2-Emissionen um bis zu 70 Prozent reduziert werden, die Kosten lagen bis zu 75 Prozent unter denen eines Abrisses und Neubaus. Das Projekt 1 Triton Square in London zeigt, wie man die in Bestandsgebäuden verbaute graue Energie als Fundament für zukunftsfähige Gebäude nutzen kann. Die 1990 erbaute Firmenzentrale von British Land wurde nachhaltig saniert und um drei zusätzliche Stockwerke erweitert.

Maxime war, die vorhandene Struktur beizubehalten und den Ressourcenverbrauch zu minimieren. Insgesamt wurden 35.000 Tonnen Beton, 1.900 Tonnen Stahl, 3.300 m² Kalkstein und 3.500 m² Fassaden-Paneele wiederverwendet. Durch die Sanierungsmaßnahmen spart das Gebäude trotz einer Verdoppelung der Bruttogeschossfläche mehr CO2 ein als in den nächsten 40 Jahren im Betrieb ausgestoßen wird. 2019 wurde 1 Triton Square mit dem World Architecture News Award und 2020 mit dem BREEAM Award ausgezeichnet.

(Eine Reflexion zum Thema graue Energie und CO2-Emissionen von Ulrike Elbers, Tragwerksplanerin bei Arup)





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