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09.04.2021 Dekarbonisierung erfordert kollektives Handeln ohne Präzedenzfall

Die Immobilienbranche steht vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen trifft ein Konjunkturabschwung auf die langfristigen Konsequenzen der Beeinträchtigungen durch die Corona-Pandemie, zum anderen gewinnen die Aspekte Umwelt, Gesellschaft und Unternehmensführung (Environmental, Social, Governance; ESG) immer stärker an Bedeutung.

Ein Bericht von PwC und dem Urban Land Institute (ULI) hebt hervor, dass die Corona-Pandemie weltweit eindeutig als „Beschleuniger bestehender Trends“ wie etwa der Digitalisierung und des Online-Shoppings wahrgenommen wird, gleichzeitig jedoch auch als wirkungsstarker Katalysator für die Agenda der Immobilienbranche in den Bereichen Umwelt, Gesellschaft und Unternehmensführung (ESG). Mehr Unternehmen denn je rücken in ihrer Reaktion auf den durch die Pandemie ausgelösten Druck den Klimawandel und Dekarbonisierungsstrategien in den Mittelpunkt ihrer Geschäftstätigkeit.

Die für den jährlichen Bericht „Emerging Trends in Real Estate®: Global Outlook“ [Aufkommende Trends im Immobilienbereich: Globaler Ausblick] befragten Branchenführer sind zuversichtlich, dass die von den Konsumausgaben getragene konjunkturelle Erholung in der zweiten Jahreshälfte 2021 zu einer Belebung der Wirtschaftstätigkeit führen wird. Dabei wird jedoch viel von der Durchführung der Impfkampagnen und einer Lockerung der Lockdown-Einschränkungen abhängen.

Auf den Märkten droht angesichts der Konjunkturprogramme und Liquiditätsspritzen beispiellosen Umfangs nun Volatilität. Auch das Aufkommen von Aktienmarktblasen sowie der erneute Inflationsdruck in den USA und in Europa bereiten Marktführern im Immobiliensektor Sorgen. Trotz des Risikos erhöhter Volatilität hält die lockere Geldpolitik die Zinsen vorerst niedrig und macht die Renditespanne von Immobilien gegenüber anderen Anlageklassen für Investoren enorm attraktiv.

Die Kreditgeber haben seit Beginn des zweiten Lockdowns im Herbst eine deutlich vorsichtigere Haltung gegenüber Immobilien eingenommen als die Aktieninvestoren. Anfangs unterstützten die Banken noch weitgehend die Unternehmen – wenn auch unweigerlich auf Geheiß von Regierungen und Zentralbanken. Seither sind die Kriterien für die Kreditvergabe jedoch strenger geworden. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Zahl der notleidenden Kredite zunehmen wird, sobald die Hilfspakete der öffentlichen Hand auslaufen. Eine Notlage von gleichem Ausmaß wie nach der globalen Finanzkrise gilt jedoch als unwahrscheinlich.

Laut dem Bericht erfolgt angesichts des Drucks auf die Vermietungsmärkte eine „Zweiteilung der Preisbildung“ zwischen bevorzugten Sektoren wie der Logistik, die während der Pandemie für stabile Einnahmen gesorgt haben, und Sektoren, die am stärksten beeinträchtigt waren, wie dem Gastgewerbe und Teilen des Einzelhandels. Auch Wohnimmobilien sind beliebt, da die Anleger in ihnen eine günstige Dynamik von Angebot und Nachfrage sehen, die Wohninvestments auf absehbare Zeit zu einer klugen Defensive machen. Die Aussichten für den Bürosektor lassen sich allerdings ungleich schwieriger voraussagen. In dem Bericht wird davon ausgegangen, dass sich die Pandemie weniger gravierend auf Büroimmobilien auswirken könnte als weithin angenommen. Zudem wird erwartet, dass Arbeitnehmer letztendlich gerne wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren werden – wenn auch im Rahmen eines „hybrideren“ Arbeitsmodells als vor der Corona-Krise. Für Asien wird ebenfalls nur von geringen langfristigen Auswirkungen ausgegangen, da die dortige Unternehmenskultur und die relativ kleinen Wohnflächen in asiatischen Großstädten zu einer breiteren Rückkehr zur Präsenzarbeit im Büro führen dürften.

Als gemeinsamer Nenner ergab sich aus den durchgeführten Interviews, dass die Branche über Vermietungsgrade und Renditen hinaus blickt und beginnt, sich mit ihrer Verantwortung auf der breiteren Ebene auseinanderzusetzen. So ist in den vergangenen 12 bis 18 Monaten die Dekarbonisierung in der Immobilienbranche zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Verantwortlich dafür sind in erster Linie Geldgeber und Großmieter, aber auch der Klimawandel, der angesichts immer häufiger auftretender Extremwetterereignisse leichter greifbar wird.

Die wichtigsten Erkenntnisse aus den Interviews lassen darauf schließen, dass es angesichts der schieren Komplexität der Entwicklung, des Besitzes und der Verwaltung von Immobilien selbst für die größten Unternehmen schwierig ist, eine effektive Strategie zu entwickeln – ganz zu schweigen von deren tatsächlicher Umsetzung. Im Moment existieren keine einheitlichen Definitionen dafür, was „netto null“ eigentlich bedeutet. Bezieht es sich nur auf die Kohlenstoffemissionen beim Betrieb von Gebäuden, oder auch auf die „verbauten CO2-Emissionen“, die bei Materialproduktion und -transport und beim Gebäudebau ausgestoßen werden?

Die Vielzahl an Zertifizierungen, Normen, Zielen und Begriffen verleitet einige zum „Greenwashing“: Zur Stärkung ihrer Marke und zum Einwerben von Kapital erwecken sie den Anschein von Dekarbonisierungsbemühungen, zeigen dabei jedoch de facto nur die halbe Wahrheit. Zur Vermeidung derartigen „Grünfärbens“ ist es unerlässlich, dass alle Beteiligten – einschließlich von Entwicklern, Bauunternehmen, Investoren, Mietern und staatlichen Stellen – ihre Ziele miteinander abstimmen und enger denn je kooperieren. So heißt es denn auch in dem Bericht: „Jede Zertifizierung oder Netto-Null-Norm, bei der verbaute CO2-Emissionen nicht im Vordergrund stehen, birgt das Risiko, die Immobilienbranche in die völlig falsche Richtung zu lenken. So könnten Innovationen in Bereichen erstickt werden, in denen sie dringend benötigt werden, und Finanzmittel in Initiativen umgeleitet werden, die im Hinblick auf die Senkung der Kohlenstoffemissionen kaum Wirkung zeigen werden.“

Dazu Ed Walter, CEO von ULI Global: „Ungeachtet davon, wie akut die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie tatsächlich sind, hat die Immobilienbranche erkannt, dass die langfristigen Auswirkungen des Klimawandels noch größer sein werden. Wirklich in den Griff bekommen haben diese Herausforderung bisher nur wenige. Dennoch verbreiten sich in allen Bereichen der Branche zunehmend entsprechende Kompetenzen und Innovationen. Das Urban Land Institute leistet dabei durch den Austausch von Wissen und besten Praktiken einen unerlässlichen Beitrag.“

Die Interviews zeigen, dass der Immobilienwirtschaft durchaus bewusst ist, dass Fördermittel zurückgezahlt werden müssen, Gesundheit und Wohlbefinden an Bedeutung gewinnen und mit einer Verschärfung der ESG-Vorschriften zu rechnen ist. Dies impliziert allerdings auch beträchtliche Kosten. Zudem sind die Vorlaufzeiten für die Schaffung entsprechender Innovationen und die Implementierung von Änderungen in den Versorgungslinien beträchtlich. Der Impfstoff allein wird die Qualen der anstehenden Reformen nicht lindern.

Dazu Craig Hughes, Global Real Estate Leader bei PwC: „Alle Augen richten sich derzeit auf die Belebung der Konjunktur. Dabei darf man jedoch angesichts der tief greifenden Verwerfungen quer durch viele Wirtschaftszweige und die Gesellschaft auch die strukturellen Auswirkungen dieser Krise nicht unterschätzen. Es geht um mehr als Rezession und Aufschwung – denn eine Rückkehr zum vorherigen Status quo wird es nicht geben. Das Hauptaugenmerk liegt jetzt auf den ESG-Faktoren, und dies umfasst auch ein verstärktes Bewusstsein für die Dringlichkeit der Dekarbonisierung.“

„Da die Entwicklung, der Besitz und der Betrieb von Immobilien nach wie vor ungemein komplex sind, ist die Schaffung einer effektiven Strategie unerlässlich. Wenn die Branche ihren Beitrag zur Umkehrung des Klimawandels und zur Anpassung an die postpandemische Welt leisten will, werden die Eigentümer, die Nutzer und die übrigen an der Immobilienwertschöpfungskette Beteiligten alle am gleichen Strang ziehen müssen.“

In einem Kapitel zum Thema Dekarbonisierung wird in dem Bericht zu einer Reihe von Maßnahmen geraten:

• Geht man davon aus, dass etwa 80 % der im Jahr 2050 bestehenden Gebäude bereits heute gebaut sind, so hätte es erheblichen Einfluss auf das Erreichen des Ziels der Netto-Null-Emissionen, wenn man diese Gebäude energieeffizient machen würde, statt neue Gebäude zu entwickeln.
• Angesichts der Komplexität des Besitzes und der Verwaltung von Immobilien ist es erforderlich, dass Entwickler, Eigentümer, Lieferanten, Berater, Kunden, kommunale und nationale Behörden sowie auch internationale Gremien alle zur Umsetzung gemeinsamer Ziele und Strategien kooperieren.
• Würde die Bewertungsmethodik so geändert, dass Nachrüstungskosten berücksichtigt würden, so könnte man dadurch Veränderungen erzwingen. Bewährte Praktiken der Branche würden modifiziert, und es könnten Änderungen von Seiten der Aufsichtsbehörden erforderlich werden, die regeln, wie Bewertungen und Gutachten in verschiedenen Staaten durchgeführt werden.
• „Netto-Null“ entwickelt sich derzeit unaufhaltsam zur wichtigsten Norm für Gebäude im Hinblick auf den Klimawandel und die Dekarbonisierung.
• Würden die Mieter ihr Verhalten so ändern, dass sie bei der Bewertung von Netto-Null-Zielen auch verbaute CO2-Emissionen berücksichtigen, so würde dies den Anreiz für die Immobilienbranche, neue Gebäude zu entwickeln, erheblich senken.
• Durch „grüne“ Mietverträge können Anreize für Mieter geschaffen werden, auf erneuerbare Energiequellen umzusteigen und den eigenen Energieverbrauch zu reduzieren.

Während rund 28 % der weltweiten Emissionen aus dem Betrieb von Gebäuden und etwa 11 % aus dem Bau stammen, werden 74 % des Kohlenstoffs, der während des Lebenszyklus eines Gebäudes ausgestoßen wird, bei dessen Aufbau und Abriss verursacht, wie aus Angaben der Vereinten Nationen und der US-amerikanischen Behörde für Energieinformationen [US Energy Information Administration] hervorgeht.

Angesichts des Anteils der bebauten Umwelt an den CO2-Emissionen ist von einer zunehmenden Regulierung von Immobilien durch kommunale, regionale und nationale Behörden auszugehen. In diesem Zusammenhang werden in dem Bericht das bundesstaatliche Gesetz Nr. 97 [Local Law 97] in New York, der „grüne New Deal“ [Green New Deal] in Los Angeles, die Energieeffizienznormen in Großbritannien sowie die Kohlenstoffsteuer für gewerbliche Gebäude in Deutschland angeführt. In Frankreich wurde ein Gesetzentwurf eingebracht, nach dem Vermieter und Mieter gleichermaßen für den Energieverbrauch eines Gebäudes verantwortlich sein sollen. Auch im asiatisch-pazifischen Raum werden in China und Singapur nach der kürzlichen Ankündigung von Netto-Null-Zielen schärfere Auflagen für Immobilien erwartet. Die Investoren sind sich zunehmend des Risikos von verlorenen Vermögenswerten („stranded assets“) bewusst, die nicht mit den Vorschriften in Einklang gebracht werden können und für die sich keine Käufer oder Nutzer finden. Erste Konsequenzen dieser Erkenntnis zeigen sich bereits in der mittlerweile generellen Auffassung, dass umweltfreundlichere Gebäude immer öfter als besser verkäuflich angesehen werden.









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